Am 22. Juni jährte sich zum siebzigsten Mal der Tag des Einmarsches der Deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion. Ein Tag, der dazu einlädt, sich Gedanken über die Beziehungen beider Völker zueinander zu machen.
"Der Westen gegen Russland. Russland und Deutschland gemeinsam oder gegeneinander?"
Dieses Buch, bereits in der zweiten Auflage - in der ersten Auflage war anstelle des Stalin-Bildes ein Bild eines russischen Soldaten, anstelle des Hitler-Bildes eines eines deutschen Soldaten (beide aus dem 1. Weltkrieg) - beschwört die historische deutsch-russische Freundschaft und ist an nahezu jedem Kiosk in Russland erhältlich.
Zwei Kriege im vergangenen Jahrhundert, vor allem aber der Zweite, in dem Russen und Deutsche den größten Blutzoll entrichten mussten, und der zudem ein Kampf zweier Weltanschauungen war, die sich in unversöhnlichem Hass gegenüberstanden, ließen wenig Raum für freundschaftliche Gefühle. Die Härte der Kriegsführung, die Behandlung der jeweiligen Kriegsgefangenen, Morde und die Vertreibung von Millionen deutscher Menschen aus dem Osten des Reiches, der zwar nur zu einem kleinen Teil dem sowjetischen Imperium einverleibt wurde, aber von der Roten Armee erobert worden war, taten ein übriges. Und dann folgte noch für fast ein halbes Jahrhundert der Kalte Krieg mit Stacheldraht und Mauer, die ein menschenverachtendes System schützen sollten. – Das deutsche Volk in seinen drei Staaten war – von Ausnahmen abgesehen – antikommunistisch und damit, in verständlicher aber unzutreffender Gleichsetzung, auch antirussisch eingestellt.
Der Zusammenbruch des Kommunismus und der Zerfall der Sowjetunion führten zum Ende der 1945 entstandenen bipolaren Welt. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren als Sieger aus dem Kalten Krieg hervorgegangen. und blieben als einzige Supermacht über. Seit dem Wegfall der Bedrohung durch die Sowjetunion betreiben sie eine extrem arrogante und selbstherrliche Politik. Wer sich nicht fügt wird niedergemacht. Hatten die USA bei ihren Angriffen auf Serbien und Afghanistan noch die Unterstützung ihrer NATO- und sonstiger Verbündeter gesucht, so machten sie sich bei ihrem Überfall auf den Irak nicht einmal mehr die Mühe, einen plausiblen Kriegsgrund zu konstruieren.
Saddam Hussein sollte gestürzt werden, um dem “Westen”, sprich: den USA, den Zugriff auf die irakischen Ölvorkommen zu sichern. Zudem erhoffte sich Washington dadurch eine kräftige Belebung der dahindümpelnden US-Wirtschaft. Der Angriff auf Libyen zeigt allerdings, dass auch die ehemaligen europäischen Kolonialmächte noch immer von einer Art imperialistischen Bazillus befallen sind.
Trotzdem: Die Interessen der europäischen Staaten und Völker decken sich nur zum geringsten Teil mit denen der USA. Kriege jedenfalls zählen nicht zu dem, was Europa, vor allem aber Deutschland, braucht und wünscht.
Die Frage stellt sich allerdings, ob die Völker Europas in der Lage und willens sind, aus ihrer Vasallenstellung auszubrechen und sich zu emanzipieren oder ob der alte Kontinent endgültig zu einem US-Protektorat verkommt.
Russland, das Kernland der einstigen Sowjetunion, befindet sich in einer ähnlichen Lage. Hatte das Deutsche Reich 1945 den Krieg verloren, so ereilte die Sowjetunion 1989 dieses Schicksal. Das Ende des kommunistischen Imperiums, der Verlust weiter Teile des ehemaligen Staatsgebietes und die Umstellung von kommunistischer Planwirtschaft auf marktwirtschaftliche Verhältnisse ließen Russland vorübergehend auf die Stufe eines Schwellenlandes sinken. Aber “alles fließt” sagten die alten Griechen und dies trifft in besonderen Maß auf die Politik zu. Russland befindet sich trotz mancher noch bestehender Schwierigkeiten wieder im Aufschwung. Seine Wirtschaft hat sich erholt und es verfügt nach wie vor über Spitzentechniker und über ein ausgezeichnetes Schulwesen, vor allem aber über fast unbegrenzte Rohstoffe. Zudem wurde den Russen zu keiner Zeit ihr Nationalstolz ausgetrieben. Sie wurden zwar kommunistisch indoktriniert, nicht aber gänzlich umerzogen wie die Deutschen in den westlichen Besatzungszonen.
Sollten die Völker Europas, sollten die Deutschen jemals wieder zu sich selbst zurückfinden, dann vermutlich nur in enger Zusammenarbeit mit einem erstarkten Russland.
Wir, die heute Lebenden, haben “die Russen”, als Feinde kennen gelernt. Tatsächlich gab es aber weit längere Zeitabschnitte, in denen gute und freundschaftliche Beziehungen zwischen unseren beiden Völker bestanden. Putin, der geschichtsbewusste russische Ministerpräsident wies bei seinem Staatsbesuch in Deutschland, den er noch als Präsident absolviert hatte, darauf hin, dass “wir früher viel öfter Verbündete gewesen waren”, und sprach von seinen Gefühlen für Deutschland, von Goethe und Kant und von gemeinsamer Geschichte. Aber auch innerhalb Russlands haben Deutsche eine große Rolle gespielt und das Antlitz Russlands wesentlich mitgeprägt. Bereits im 11. Jahrhundert befanden sich deutsche Kaufleute im Raum Kiew und im 12. Jahrhundert arbeiteten deutsche Baumeister im Teilfürstentum Vladimir-Suzdal. Im Jahre 1229 gründeten deutsche Kaufleute in Nowgorod die älteste deutsche Kolonie auf russischen Boden und um 1500 wurde eine “Nemezkaja Sloboda”, eine deutsche Vorstadt in Moskau gegründet. Immer wieder holten russische Zaren deutsche Siedler in ihr Reich. Unter Zar Alexey Michailowitsch (1645-1676) bekommen Städte wie Nowgorod, Kasanj und Pleskau (Pskow) deutsche Vorstädte. Peter der Große holte sich viele Anregungen in der “Nemezkaja Sloboda”. Durch die Eroberung der Ostseeprovinzen wurde das Deutschtum in Russland erheblich gestärkt und die Baltendeutschen selbst erfreuten sich bald einer Sonderstellung unter den Zaren, die ganze Regimenter der Garde, ganze Ministerien und ihre hohe Bürokratie mit ihnen besetzten. Peter der Große räumte den Deutschen bei der von ihm vorangetriebenen Europäisierung Russlands eine prominente Rolle ein. Als “gebetene Gäste” sollten sie den Russen ein Vorbild sein. Peter selbst sprach laut Zeitzeugen gelegentlich mehr Deutsch als Russisch. Zu besonderer Blüte wuchs das Russlanddeutschtum unter der Witwe Friedrich Wilhelms von Kurland, Zarin Anna Ioannowna (1730-40), einer Nichte Peters. Fast alle einflussreichen Stellen am Hof, in Verwaltung, beim Militär und in der Diplomatie waren von – meist baltischen – Deutschen besetzt. Heinrich Johann Friedrich Ostermann aus westfälischer Pastorenfamilie hatte Anna Ioannowna auf den Thron geholfen und wurde Vizekanzler, einflussreichster Günstling am Hof der Herrscherin ist der ehemalige Kammerherr Ernst Johann von Biron, der für seine Dienste zum Herzog von Kurland befördert wird. Generalfeldmarschall Burghard Christoph Münnich aus einem alten oldenburgischen Deichgrafengeschlecht gilt neben Suworow als populärster russischer Feldherr. Mit Katharina II., der ersten Deutschen auf dem Zarenthron begann durch eine planmäßige Einwanderungspolitik eine neue Epoche in der Geschichte der Deutschen in Russland. Sie holte Familien aus Hessen, aus Baden und Württemberg, aus dem Elsass und der Pfalz, der Schweiz und aus Bayern, aus Norddeutschland und aus Westpreußen. 1816 wurde der Deutsche Nesselrode russischer Außenminister.
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ab 1871, wird die dominierende Rolle des Deutschtums – nicht der Deutschen – eingeschränkt. Schul- und Amtssprache wird russisch. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges endet die glückliche Zeit für die Deutschen in Russland, obwohl noch eine große Anzahl von Deutschen Führungspositionen in Verwaltung und Armee bekleideten. So war einer der Befehlshaber auf russischer Seite in der Schlacht von Tannenberg ein General Rennenkampff und der Kommandeur der 5. Russischen Armee General von Plehwe. Rund 40 Kommandeure auf russischer Seite waren deutschstämmig. Abgesehen davon heirateten die russischen Zaren vorwiegend deutsche Prinzessinnen und seit 1761 setzte sich die Romanow-Dynastie in der rein deutschen Linie Holstein-Gottorp fort.
Auch das Verhalten der russischen Zaren gegenüber den deutschen Staaten war überwiegend freundschaftlich. Im Siebenjährigen Krieg rettete Russland durch sein Ausscheiden aus der antipreußischen Koalition Friedrich den Großen und möglicherweise sogar die Existenz Preußens. In den Napoleonischen Kriegen waren es wieder die Russen, welche die Hauptlast im Kriege gegen den französischen Eroberer trugen. Als General Ludwig York, der Kommandeur des preußischen Hilfskorps, am 30. Dezember 1812 mit dem russischen General Diebitsch in eigener Verantwortung gegen den Willen seines Königs die sogenannte Konvention von Tauroggen schloss, war der Startschuss für die Erhebung und schließliche Befreiung Deutschlands abgefeuert. Auf russischer Seite verhandelte neben Diebitsch, der selbst Deutscher war, auch Clausewitz, der berühmte preußische Militärtheoretiker. Nach dem damaligen russischen Zaren Alexander wurde später aus Dankbarkeit der heute noch bestehende Alexanderplatz in Berlin benannt. Auch die Gründung des zweiten deutschen Reiches wäre ohne die wohlwollende Neutralität Russlands während des deutsch-französischen Krieges kaum möglich gewesen. Bismarck, der preußische Kanzler, hatte in seiner Zeit als preußischer Gesandter in St. Petersburg wertvolle Vorarbeit geleistet. Die Beziehungen zu Russland, wie auch zu England, blieben während der Kanzlerschaft Bismarcks ungetrübt. Erst seine Entlassung 1890 durch den jungen Kaiser führte zu einer politischen Umorientierung der europäischen Mächte. Bismarcks Nachfolger als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident, General Leo Graf von Caprivi unterließ es bewusst, den Rückversicherungsvertrag mit Russland zu erneuern, was dazu führte, dass bereits zwei Jahre später Frankreich und Russland eine Militärkonvention abschlossen und Deutschland – und auch Österreich-Ungarn – sich in einer Zweifronten-Situation befanden. Damit war die ungünstige Ausgangsposition der Mittelmächte für die folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen geschaffen.
Heute sitzen Deutsche und Russen, ja alle Europäer, im selben Boot.
Es geht nicht nur darum, sich US-amerikanischen “Wünschen” nach Teilnahme an ihren kriegerischen Abenteuern zu verweigern und die nationale Eigenständigkeit wieder zu erlangen, es geht auch darum, den seelenlosen, nur an materiellen Werten orientierten Amerikanismus, die “Coca Colonisation” und "Mc Donaldisierung” abzuwehren, die eigene Identität zu bewahren und die europäischen Kulturtraditionen zu erhalten. Wir müssen, trotz der Wunden, die Deutsche und Russen einander geschlagen haben, wieder an die Zeit vor den beiden Weltkriegen anknüpfen.
Oberst Schirmer, unter dessen Kommando Nemmersdorf von der Deutschen Wehrmacht zurückerobert werden konnte, hat die Russen, richtiger: die Sowjets, wohl von der schlimmsten Seite kennen gelernt. Er sah nicht nur die verstümmelten und geschändeten deutschen Leichen, er befand sich auch viele Jahre in sowjetischer Haft; zuerst im russisch besetzten Teil Deutschlands, der späteren DDR, dann in Workuta. Nach seiner Entlassung diente er noch in der deutschen Bundeswehr, also einer NATO-Armee. Und dieser Mann sagte mir anlässlich eines Gespräches: “ Das deutsche Volk kann nur überleben, wenn es wieder zu sich selbst findet. Und das geht nur, wenn wir uns aus dem Westbündnis lösen und uns in Richtung Osten orientieren.”
Das deutsche Volk ist das Volk der Mitte. Tatsächlich kann die Zukunft Deutschlands nicht in einem “entweder-oder liegen”, sondern nur in einem “sowohl als auch”. Das heißt: keine einseitige Westbindung und keine einseitige Ostbindung, sondern Außenpolitik im Sinne Bismarcks! Dr. Herbert Fritz