Der Islamische Staat und die Kurden
Der kometenhafte Aufstieg der Terrorgruppe ISIS , die mit der Eroberung von ;Mossul und der überstürzten Flucht der irakischen Soldaten ihren bisher größten Erfolg erringen und modernstes Kriegsgerät und an die 500 Millionen Dollar erbeuten konnte, hat Bewegung in den Nahen Osten gebracht. Die Terrorbewegung, ursprünglich gefördert und unterstützt von den Golfstaaten, der Türkei und zweifellos auch von den USA, entwickelte eine Eigendynamik und entglitt vollkommen ihren Paten.
Die ausgebrochene Panik unter den irakischen Regierungssoldaten war so groß, dass sie auch die Erdölstadt Kirkuk kampflos räumten.
Eine Sternstunde der Kurden
Bevor aber die sieggewohnten ISIS-Kämpfer in die Stadt eindringen konnten, waren die kurdischen Pesch Merga – und zwar mit ausdrücklicher Zustimmung Malikis - zur Stelle und konnten den Gotteskriegern eine erste Niederlage zufügen. Seitdem ist Kirkuk wieder in kurdischer Hand!
Nach dieser Niederlage vor Kirkuk setzte sich aber der Siegeszug der Gotteskrieger in den arabischen Gebieten fort und am 29. Juni 2014 riefen sie einen als Kalifat bezeichneten Staat aus.
Er nennt sich IS, also Islamischer Staat und Kalif ist Abu Bakr al-Baghdadi.
PKK als Retter
In den ersten Augusttagen spielte sich im Sindschar-Gebirge eine Tragödie ab, über die auch österreichische Zeitungen ausführlich berichtet hatten. Die IS-Krieger waren in Dörfer der Jesiden, die in ihren Augen Teufelsanbeter sind, rund um das Sindschar-Gebirge eingedrungen. Die anwesenden Pesch Merga zogen sich kampflos zurück. Diese Flucht hinterlässt eine Schramme auf dem Ehrenschild der sonst so tapferen Pesch Merga.
Übereinstimmend berichteten Jesiden im Flüchtlingslager Dayrik von Exekutionen, von ermordeten Kindern und versklavten Frauen, die wie Vieh auf dem Markt verkauft werden. Irakischen Medien zufolge habe der Islamische Staat Festpreise für jesidische und christliche Frauen festgelegt. Die Tarife reichen von 35 Euro für ältere Frauen bis zu 138. Euro für Kinder . Zigtausende Jesiden konnten sich rechtzeitig in die Berge retten, wo sie dann aber tagelang ohne Nahrung und ohne Wasser ausharren mussten. Auch da sind noch viele gestorben. Dass aber der weitaus größere Teil gerettet werden konnte, ist ausschließlich den Kämpfern der aus Syrien kommenden Partei der Demokratischen Union (PYD), der Schwesterpartei der PKK, zu danken, die, obwohl zahlenmäßig den Daasch (so werden die Kämpfer des IS genannt), weit unterlegen, einen Korridor zum Sindschar-Gebirge freikämpfen und so mindestens 30.000 Jesiden das Leben retten konnten.
Der Kampf um Makhmur
Gleich nach der Befreiung der Jesiden im Sindschar-Gebirge hatte die PKK mit Genehmigung Massud Barsanis, des Präsidenten der kurdischen Regionalregierung im Irak und der PUK Kämpfer nach dem südwestlich von Erbil gelegenen Flüchtlingslager Makhmur geschickt. Unmittelbar nach ihrer Ankunft am 7. August versuchten die Daasch, die Verteidiger zu überrennen, wurden aber abgewehrt.
Nach einem Ruhetag griffen sie am 9. und 10. August. erneut das Lager an.
Nach heftigen Kämpfen gaben sie sich geschlagen und traten den Rückzug an. „Der Erfolg war“, so sagte Cemsit Merdin, der Kommandant von Makhmur, „der Zusammenarbeit von PKK, KDP und PUK zu danken. Wie wichtig der Sieg in Makhmur war, beweist die Tatsache, dass IS-Leute am 6. August, also einen Tag vor ihrem Angriff auf Makhmur, in Erbil in Flugzetteln ihr Kommen angekündigt hatten. Wäre Makhmur gefallen, so wäre Erbil ernstlich bedroht gewesen. Präsident Massud Barsani hatte sich, trotz politischer und ideologischer Gegensätze zur PKK ausdrücklich bei ihr für die Waffenhilfe bedankt. – Und die AUA hatte am 8. August für einige Tage ihre Flüge nach Erbil eingestellt.
Rojava
Seit dem Beginn der Kämpfe um Kobane am 15. September 2014 sind die Augen der Weltöffentlichkeit auf diese Stadt gerichtet, obwohl es immer wieder auch im Irak zu schweren Gefechten zwischen Kurden und den Daasch kommt und auch in den anderen Teilen Rojavas, so die offizielle kurdische Bezeichnung für die drei kurdischen Kantone Syriens.
„Noch vor wenigen Tagen fanden in einigen Dörfern südlich von Tel Marouf Angriffe der „Daasch“ statt, die wir allerdings abwehren konnten. Tel Marouf selbst mit seiner berühmten Moschee befand sich im März dieses Jahres zehn Stunden in der Hand der Daasch. Im Inneren der Moschee hatten sie Feuer gelegt, den Sufi-Schrein und das Minarett gesprengt und die Bibliothek verwüstet“ schilderte uns (das waren ein Holländer und ich) Redur Xelil, der Sprecher der YPG, (Volksverteidigungseinheiten ) im Kanton Cezire. Anschließend gab er uns noch einen Kurzbericht über die militärische Lage.
Meine Frage, ob seine Truppen schon Daasch gefangen hätten, die aus Europa kamen, verneinte er, aber in Kobane hätten sie gestern zwei aus Belgien und einen aus Frankreich stammenden „Gotteskrieger“ erwischt. Gleichsam zum Trost zeigte er uns dann etliche Ausweise gefallener Daasch, zu denen auch zwei türkische Soldaten gehörten. Mit den Worten „Wir werden bis zur letzten Patrone kämpfen“ verabschiedete er uns.
Dass es der PYD offensichtlich gelungen war, die Massen zu mobilisieren und zu begeistern, zeigte uns schon am ersten Tag in Rojava ein Begräbniszug.
Von Semalka aus, im nördlichsten Zipfel der syrisch-irakischen Grenze hatte ich mit einem alten Boot den Tigris überquert und dann war es per Auto mit einem syrischen Kurden weiter gegangen. Auf dem Weg nach dem Städtchen Dayrik trafen wir auf einen beeindruckenden Trauerzug. Zwei gefallene „Schahid“ (Märtyrer) wurden in einem feierlichen Autokonvoi mehrere Kilometer zum Friedhof gefahren. In den etwa hundert (!) Autos, die mit Fahnen der PYD und Fotos von Abdullah Öcalan versehen waren, saßen weibliche und männliche Kämpfer. Die Begräbnisfeierlichkeiten fanden ohne geistlichen Beistand statt. Die gehaltenen Reden wirkten kämpferisch. Auf meine später immer wieder gestellte Frage: „Wie könnt ihr einer materiell derart überlegenen Armee, wie der des IS mit euren bescheidenen Mitteln standhalten?“ kam immer, ob in Makhmour, Kirkuk oder in Cezire die gleiche Antwort: „Wir kämpfen für unsere Freiheit und für unser Volk“.
Danach ging es nach Tel Marouf, wo der IS sein „Kulturverständnis“ demonstriert hatte. Die vorgeschobenen Posten der PYD waren einfach, aber gut geschützt und die Soldaten waren zusätzlich zu ihrer Bewaffnung mit Sprechgeräten und Ferngläsern ausgestattet.
Einer der Stützpunkte war von einer äußerst hübschen Kurdin besetzt. „Wenn ich ein Daasch wäre, würde ich den Stützpunkt stürmen, um diese hübsche Soldatin zu erobern“ scherzte ich. Sie lächelte geschmeichelt, auch die umstehenden Soldaten amüsierten sich und einer meinte dann, sie lebten hier die Philosophie Abdullah Öcalans, die verlange, dass sich auch die Frauen .in jeder Lebenslage verteidigen könnten.
Tatsächlich beruht die Ende Jänner 2014 erfolgte Inkraftsetzung der seit November 2012 geltenden Übergangsverwaltung ausschließlich auf den Thesen Abdullah Öcalans.
Sie soll die ethnische und religiöse Situation Nordsyriens widerspiegeln. Die christlichen Assyrer werden als eigene Nation geführt.
Neben Arabisch wurde die kurdische und die assyrisch-aramäische Sprache in den staatlichen Schulen eingeführt und die dazu erforderlichen Lehrer ausgebildet. Alle Führungspositionen in Partei und Verwaltung müssen doppelt besetzt sein, wovon eine Person immer eine Frau sein muss Ob Ministerpräsident oder Kantonspräsident, es gibt immer eine dazugehörige Co-Präsidentin. Im exekutiven und legislativen Rat sind alle drei großen ethnischen Gemeinschaften Rojavas vertreten: Kurden, Araber und assyrische Christen.
Die beiden Kantonspräsidenten von Cezire könnten unterschiedlicher nicht sein.
Er , Humeydi Deham El-Hadi ist Araber, Moslem und oberster Scheich des Stammes der Schammar und sie, Hadiya Yousif ist Kurdin.
Auf die Frage eines türkischen Journalisten: „Wie fühlen Sie sich als Moslem, Mann und Araber, wenn sie gemeinsam mit einer ihnen gleichgestellten Frau das Amt des Präsidenten ausüben?“
Der Scheich lächelte verschmitzt. Er hatte diese Frage offensichtlich schon des öfteren gestellt bekommen. „Die Frauen verschönern und bereichern unser Leben“, meinte er, ohne auf den Kern der Frage einzugehen
Die PYD als bei weitem stärkste Kraft hatte die Grundlagen der Selbstverwaltung in den syrischen Kurdengebieten gelegt, die aus drei voneinander getrennten Gebieten bestehen: Im Osten grenzt der Kanton (so werden die drei Kurdenregionen jetzt bezeichnet) Cezire, unmitellbar an die autonome irakische Kurdenregion. Es ist der größte der drei Kantone mit der Hauptstadt Qamishli. Die Regierung befindet sich derzeit aber noch in der wesentlich kleineren Stadt Amude. Weitere 300 Kilometer westlich liegt der Kanton Kobane mit der gleichnamigen Hauptstadt und ganz im Westen Afrin, der kleinste der drei Kanone, die alle über eine eigen Regierung verfügen. Konferenzen werden per Skype abgehalten.
Ein kluger Schachzug
Syriens Präsident Baschar al-Assad hatte noch im März und April 2011 Gesetze erlassen, die eine Besserstellung der Kurden zum Ziel hatten, in der Hoffnung, sie auf seine Seite ziehen zu können, zumindest aber um zu verhindern, dass sie die Reihen seiner Gegner stärken. Bereits im Juni 2012 hatte die syrische Armee mit Truppenverlegungen begonnen, sodass die Kurden nahezu kampflos die Kontrolle über einige Städte übernehmen konnten. Einer der Hauptgründe für den Abzug der Regierungstruppen war, neben der Bedrohung durch die FSA und islamistische Gruppen zweifellos der Verzicht der Kurden auf Bildung eines eigenen Staates. Sowohl die PYD als auch der Massud Barsani nahestehende „Kurdische Nationalrat“ (KNC), die sich am 11. Juli 2012 im „Hohen Kurdischen Rat“ zusammengeschlossen hatten, vertreten die gleiche Position: Selbstverwaltung der kurdischen Gebiete in Nordsyrien.
Tatsächlich herrscht, wie Redur Xelil erklärte, zwischen den Truppen Assads und den kurdischen Kämpfern eine „Nichtbeziehung“, das heißt ein stillschweigendes gegenseitiges Tolerieren. So befindet sich der Flugplatz in Qamishli in der Hand der Regierungstruppen, während die Stadt selbst von Kurden beherrscht wird. Auch in den Städten Hasakah und
Amude, dem Regierungssitz von Cezire verfügen die Regierungstruppen noch über Stützpunkte.
Das türkische Dilemma:
Schleier oder Kalaschnikow?
Schon Mitte 2011 hatte die Türkei, ohne selbst militärisch einzugreifen, in dem beginnenden Bürgerkrieg eindeutig Stellung bezogen. Die sunnitisch-islamische AKP-Regierung erlag der Verlockung, das säkulare Baath-Regime in Syrien, getragen von der alawitischen Minderheit, zu stürzen, und öffnete die Grenzen für ausländische Freiwillige, die sich ausschließlich den syrischen Islamisten anschlossen. Seit den Parlamentswahlen im Jahre 2002, als Recep Tayyip Erdogan mit seiner AKP einen überragenden Wahlsieg errang, dominiert er die türkische Politik. Er hatte erkannt, dass der Kurdenkonflikt als ungelöste Dauerkrise seinen Ambitionen nach Größe und Einfluss seines Landes, vor allem im islamischen Raum im Wege steht, und er begann daher, in kleinen Schritten auf die Kurden zuzugehen. So gibt es in der Türkei keine „Bergtürken“ mehr, die kurdische Sprache ist nicht mehr verpönt, sie darf sogar gelehrt werden, allerdings nur als Fremdsprache, so wie Deutsch oder Englisch. und es gibt Fernsehen in kurdischer Sprache. .Das ist viel im Verhältnis zu der Zeit vor Erdogan, als selbst das Wort Kurde verboten war, aber bei weitem noch keine annehmbare Lösung. Er akzeptiert zwar das autonome Kurdengebiet im Irak, fürchtet aber die verstärkte Sogwirkung eines weiteren kurdischen Autonomiegebietes auf seine eigenen Kurden, deren größter Volksanteil in der Türkei lebt. Das erklärt aber nur zum Teil seine Ablehnung, den Kämpfern in Kobane zu Hilfe zu kommen. Zum anderen ist es die Ideologie der PYD, der Schwesterpartei der PKK.
Seine Hinwendung zum Islamismus würde ihm erlauben, die Kurden im Sinne der Umma, großzügiger zu behandeln und in der Tat war er der erste türkische Politiker, der den Kurden Zugeständnisse gemacht hatte.
Die Ideologie der PKK stellt aber das genaue Gegenteil dessen dar, was er vertritt.. Zwei konträre Gesellschaftmodelle, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, stehen einander gegenüber. Plakativ ausgedrückt: Schleier oder Kalaschnikow.
Das Auftreten des Islamischen Staates hat neben den scheußlichen Verbrechen, die in seinem Namen bereits begangen worden sind und vermutlich noch werden, vor allem für die Kurden auch Vorteile gebracht:
Massud Barsani spielt heute eine beachtliche Rolle auf der weltpolitischen Bühne und die Gründung eines kurdischen Staates ist in greifbare Nähe gerückt, aber auch die internationale Aufwertung der PKK wird von der Türkei nicht mehr verhindern werden können. Über die Entwicklung der syrischen Kurdengebiete lässt sich derzeit keine Prognose stellen. Sicher aber dürfte sein, dass der größte Kanton Cezire schon wegen seiner Nachbarschaft zum irakischen Kurdistan gehalten werden kann.