Gaddafis Glück und Ende. Ein Sittenbild westlicher Moral.

Der Fall von Tripolis besiegelt Gaddafis politisches Ende, unabhängig davon, ob noch Reste seiner Streitkräfte den Kampf einige Zeit fortsetzen können oder nicht und unabhängig von seinem weiteren persönlichen Schicksal. Sechs lange Monate konnten seine Truppen dem Ansturm der Rebellen standhalten, richtiger: dem Bombenterror der NATO, die im Hinblick auf die reichen Ölvorkommen Libyens der Versuchung, militärisch einzugreifen, nicht widerstehen konnte.
Am 15. Februar hatte der Aufstand in Libyen, der auf das Land durch Proteste in anderen Ländern Nordafrikas und des Nahen Osten überschwappte, begonnen. Unmittelbarer Anlass war die Verhaftung eines regimekritischen Anwaltes in Bengasi. Trotz ausgeklügelter Verteilungspraxis von Posten und Privilegien über Stammes- und Revolutionsstrukturen war es immer wieder zu Eifersüchteleien und Reibereien gekommen, leben doch auf libyschen Staatsgebiet 30 bis 40 größere Stämme. Zu weiteren Spannungen führte auch Gaddafis strenge Islamisierungskampagne, die sich nicht nur gegen westliche Einflüsse sondern auch gegen andere Richtungen des Islams richtete, zu Spannungen. So bekämpfte er auch den vor allem in der Kyrenaika vorherrschenden Sufismus und ließ dessen Moschee und Universität abreißen. Auch die Anhänger des gestürzten Königs waren nicht mit fliegenden Fahnen in das Lager Gaddafis übergelaufen. Bereits im Dezember 1969 planten zwei Minister einen Umsturzversuch, der nur durch eine Warnung des ägyptischen Geheimdienstes verhindert werden konnte. Es sollte nicht der einzige Umsturzversuch bleiben. In den 1990er Jahren kam es zu einem Erstarken der Islamisten. So gründeten u.a. Rückkehrer vom Krieg in Afghanistan die „Libysche Islamische Kampfgruppe“ (LIFG), die vor allem in der Kyrenaika ihre Basis hatte und 1996 einen Attentatsversuch auf Gaddafi unternahm.
Im selben Jahr misslang ein Bombenanschlag auf Gaddafis Eskorte. Laut einem Zeitungsbericht der New York Times vom 5. August 1998 wurde der Anschlag mit 160.000 US-Dollar durch das MI6 unterstützt. Gaddafi sollte bei dem Anschlag getötet werden, blieb aber unverletzt, stattdessen starben mehrere Gefolgsleutet. 1997 wurde das Gesetz zur Kollektivbestrafung eingeführt, durch das der Staat für die Vergehen einzelner deren Familien und Heimatstädte in Haftung nehmen konnte. Es gab also durchaus Potential für einen Aufstand, obwohl der libysche Staat laut Feststellung der Vereinten Nationen der höchstentwickelte des afrikanischen Kontinents gewesen ist und seine Bürger über eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen verfügten. Die Sozialversicherung der Einwohner umfasste die kostenlose medizinische Versorgung, sowie Witwen-, Waisen- und Altersrente. Allgemeine Schulpflicht bei kostenlosen Unterricht besteht, bzw. bestand für Sechs- bis Fünfzehnjährige. Mit Muammar al Gaddafi verlässt eine schillernde Persönlichkeit, exzentrisch und skurril, die weltpolitische Bühne; ein Mann mit Visionen, ein Sonderling, ein Diktator, aber auch nicht übler als seine islamischen Kollegen.
Seine großen Libysch-Arabisch-Afrikanische Vereinigungsprojekte, unter anderem mit den Maghrebstaaten oder mit Ägypten kamen allesamt über das Planungsstadium nicht hinaus. Auch die jahrelangen militärischen Auseinandersetzungen mit dem Tschad brachten Libyen keinen Zugewinn, weder in territorialer, noch in politischer Hinsicht. Jahrzehntelang galt er als Feind des Westens. Er verstaatlichte die Erdölgesellschaften und schloss mit der Sowjetunion ein Abkommen über wirtschaftlich-technische und militärische Zusammenarbeit. Er förderte weltweit Freiheitsbewegungen wie die PLO, aber auch terroristische Aktionen. Unmittelbar auf das Konto des libyschen Geheimdienstes gehen sowohl der Anschlag auf die Berliner Diskothek La Belle im April 1986, der schwere Angriffe der US-Luftwaffe auf Tripolis und Bengasi nach sich zog, sowie der Lockerbie-Anschlag Ende 1988 in dessen Folge der UN-Sicherheitsrat 1993 Sanktionen gegen Libyen verhängte, weil es die Auslieferung zweier verdächtiger Agenten verweigerte.
Der Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks führte zu einer Umorientierung libyscher Politik. Es begann mit der Überstellung der beiden Tatverdächtigen an den Internationalen Strafgerichtshof, worauf die Sanktionen 1999 wieder ausgesetzt wurden. Nach großzügigen Entschädigungen für die Angehörigen des Lockerbie-Anschlages und des Bombenanschlages auf die Berliner Diskothek La Belle wurden die Embargo-Maßnahmen im September vollständig aufgehoben.
Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den USA verurteilte Gaddafi die Gewaltakte und akzeptierte ausdrücklich das Recht der USA auf Selbstverteidigung. Im Dezember 2003 erklärte er den Verzicht Libyens auf Massenvernichtungswaffen. Am 10. März 2004 unterzeichnete Libyen das so genannte Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag und gestattete damit der Atomenergiebehörde umfassende Kontrollmöglichkeiten der nuklearen Anlagen des Landes. Daraufhin nahmen Frankreich, das Vereinigte Königreich sowie im Mai 2006 die Vereinigten Staaten wieder diplomatische Beziehungen auf und ordneten Libyen nicht mehr der Gruppe der sogenannten Schurkenstaaten zu. Stattdessen wurde Libyen begehrter Partner bei der Bekämpfung illegaler Einwanderung vor allem nach Italien, was ein Drängen der europäischen Staaten auf eine Aufhebung des Waffenembargos gegen Libyen nach sich zog. Auch eine juristische Altlast wurde beseitigt. Am 17. Juli 2007 endete der international kritisierte HIV-Prozess in Libyen gegen fünf bulgarische Krankenschwestern und einen palästinensischen Arzt nach sieben Jahren mit der Ausreiseerlaubnis der Angeklagten in ihre Heimatländer.
Es ist zweifellos eine Ironie der Geschichte, dass Gaddafi, nachdem er nach Jahrzehnten im antiwestlichen Lager schließlich zum geschätzten Partner des Westens geworden war, gerade von der westlichen Militärallianz gestürzt wurde.
Die Versuchung für die USA und die ehemaligen Kolonialmächte, die Gunst der Stunde zu nutzen und sich Zugriff auf die reichen Öl- und Gasvorkommen Libyens zu verschaffen, war offensichtlich zu groß. Es war klar, dass die Rebellion gegen Gaddafi innerhalb weniger Wochen zusammenbrechen würde, sodass die imperialistischen Mächte mit der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates ein Eingreifen der NATO zum Schutz der Zivilbevölkerung durchsetzen konnten. Tatsächlich war von allem Anfang an nicht der Schutz der Zivilbevölkerung das Ziel, sondern neben dem erhofften Zugriff auf die libyschen Öl- und Gasvorkommen die Vernichtung des Gaddafi-Regimes und Revanche für die seinerzeit erfolgte Enteignung der ausländischen Erdölgesellschaften. Dass der Kampf als einer für Demokratie und Menschenrechte ausgegeben wurde, versteht sich von selbst.
Am 1. September lud Nicholas Sarkozy zur „Wiederaufbaukonferenz“ nach Paris. Auf ihr sollte, so der französische Präsident, beraten werden, wie „das Libyen von morgen“ gebaut werden solle. Hinter dieser wohltönenden Phrase verbarg sich aber ein beinhartes Ringen um materielle Interessen, das heißt, um Öl, Gas und milliardenschwere Bau- und Infrastrukturaufträge, obwohl die Weichen dafür schon vor Monaten gestellt worden waren.
So hatte etwa der Vorsitzende des Rebellenrates, Mustafa Abdel Dschalil schon am 25. August erklärt: „Wir versprechen, bei der Entwicklung Libyens die Länder zu bevorzugen, die uns geholfen haben. Wir werden dies im Verhältnis zu der Unterstützung tun, die sie uns erwiesen haben.“
Frankreich wird bevorzugt
Da steht Frankreich ganz vorne an: Paris erkannte die Rebellen als erstes Land als legitime Vertreter des libyschen Volkes an, bombardierte Gaddafis Stellungen und lieferte den Rebellen Waffen und Wissen.
Die Pariser "Libération" druckte das Faksimile eines Briefes des Rebellenrates vom 3. April, demzufolge diese Frankreich in einem Geheimvertrag "35 Prozent des gesamten Öls im Austausch für die totale und permanente Unterstützung unseres Rates" zusagten. Der Rebellenrat nannte dies eine Fälschung; Frankreichs Außenminister Alain Juppé sagte, er kenne den Brief nicht. Doch es sei "logisch und gerecht", wenn beim Wiederaufbau Unterstützer der Rebellen bevorzugt würden.
Zu diesen zählt auch England, das mit Frankreich in die militärische Bresche sprang, nachdem die USA ihre Anfangsbombardements in Libyen beendeten. Und die Türkei, die den Rebellen früh mehrere hundert Millionen Euro zukommen ließ – und vor allem auch Katar: Das Golfemirat beteiligte sich an den Bombardements, bildete Rebellen aus, lieferte Waffen, Benzin und bereits im Mai eine halbe Milliarde Dollar.
Katar finanziert Rebellen
Banken aus Katar schleusten Geld ins Rebellengebiet. Entsprechend hoffen bei Verträgen um Öl, Gas und Wiederaufbau Firmen wie Frankreichs Ölgigant Total ebenso auf ein fettes Stück der Beute wie die englische BP oder Qatar Petroleum – oder auch Baukonzerne aus Frankreich oder der Türkei.
Schlecht davon kommen wohl die Länder, die Gaddafi lange stützten oder sich der Militärkampagne zu seinem Sturz verweigerten: etwa China und Russland, aber auch Deutschland, dessen Außenminister sich von Cem Özdemir, dem türkischen Parteichef der „deutschen“ Grünen wegen seiner Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat vorwerfen lassen musste, er verrate die westliche Solidarität und beschreite einen gefährlichen deutschen Sonderweg. Auch das lange zögernde Italien fühlt sich bei der Verteilung der Beute übergangen.
Schon schimpfte die dem Fiat-Konzern gehörende Tageszeitung "La Stampa" über "Sarkozys Bluff": Dieser wolle unter dem Deckmantel der Humanität einen Blitzfeldzug zugunsten französischer Unternehmen organisieren, der Italiener in Libyen zurückdränge. Italiens Botschafter in Paris beschwerte sich "Le Monde" zufolge schon offiziell beim französischen Außenministerium über "die Abwesenheit von Kollegialität und Abstimmung".
Das Fell des erlegten Bären wird also schon verteilt. Es stellt sich allerdings die Frage: Ist der Bär schon erlegt? Selbst die Zusammensetzung des „nationalen Übergangsrates“ lässt keine klare Zukunftsprognose zu. Zu viele unterschiedliche Gruppen sind darin vertreten: Stammesführer, Liberale und Islamisten, Opportunisten und auch, wie bei jeder Revolution, menschlicher Abschaum. Ein Teil der neuen Führungskräfte war fest in Gaddafis System verankert, ein anderer, wie die Islamisten, stand in Fundamentalopposition zum untergegangen System, wie etwa Abedlhakim Belhadj, der neue Militärkommandant von Tripolis. Er war Chef der Libysch-Islamischen Kampfgruppe (LIFG). Wie werden die unterlegenen Anhänger Gaddafis reagieren, wenn die neuen Machthaber auf sich allein gestellt sein werden und sich die Möglichkeit ergibt, Rache zu nehmen? Vor allem aber, wie wird die Masse der libyschen Bevölkerung reagieren, wenn sie erkennt, dass nach der „Befreiung“ ihr Lebensstandard sinkt. „Freiheit kann man nicht essen“ heißt ein altes Sprichwort. Dabei steht noch keineswegs fest, dass die Menschen unter dem neuen Regime tatsächlich freier leben werden können. Es bedarf jedenfalls keiner prophetischen Gabe, um vorhersagen zu können, dass mit dem Eingreifen der Nato in Libyen ein neuer Unruheherd geschaffen wurde. Der „Westen“ schaffte sich damit, nicht nur in Libyen, neue Feinde!