Bruno Kreisky: die „1“ vor vielen Nullen

Anlässlich des Todes von Bruno Kreisky vor über 20 Jahren hatte ich einen Beitrag für die „Deutsche National Zeitung“ verfasst, der am 3. August 1990 in der Nummer 32 veröffentlicht worden war. Den kommenden Gedenktag möchte ich dazu benutzen, den Artikel auf diesem Wege noch einmal zu veröffentlichen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist es mir ein Bedürfnis, meine Wertschätzung für einen Mann zum Ausdruck bringen, dessen Partei ich zwar nie gewählt habe, den ich aber wegen seiner Haltung zur Südtirol Frage immer geschätzt habe. Zweitens muss die versuchte Vereinnahmung Kreiskys durch H.C. Strache, trotz aller Sympathie und Wertschätzung für den freiheitlichen Parteichef, klar zurückgewiesen werden. Kreisky hatte die Palästinenser gegen den israelischen Imperialismus in Schutz genommen, Strache dagegen solidarisierte sich mit den israelischen Landräubern.

Bruno Kreisky, Österreichs längstgedienter Bundeskanzler, ist nicht mehr. Am Sonntag, dem 29. Juli, verlosch das Leben eines Mannes, der tiefe Spuren in der politischen Landschaft hinterlassen hat. Als Sohn einer großbürgerlichen deutsch bewussten jüdischen Familie – zwei seiner Onkeln waren sogar Mitglieder schlagender Studentenverbindungen – 1911 im alten Österreich geboren, erlebte er als Kind den Zusammenbruch der Monarchie und erfuhr seine politische Prägung in der ersten Republik. Schon als Mittelschüler schloss er sich den Sozialisten an, lernte gemeinsam mit inhaftierten Nationalsozialisten, die Gefängnisse des Ständestaates kennen, und schließlich, nach dem Anschluss, noch für kurze Zeit die der Nationalsozialisten. Seine letzte Prüfung an der Wiener juridischen Fakultät, das sogenannte Romanum, legte er bereits im Dritten Reich ab. Dann wurde ihm nahegelegt, das Land zu verlassen. Er emigrierte nach Schweden, wo er nicht nur die folgenden Kriegsjahre verbrachte, sondern noch nach Kriegsende einige Jahre als Legationssekretär der österreichischen Gesandtschaft in Stockholm. Nach seiner Rückkehr nach Österreich begann sein unaufhaltsamer Aufstieg, der mit seiner maßgeblichen Teilnahme als Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten an den Schlussverhandlungen für den österreichischen Staatsvertrag seinen ersten Höhepunkt erreichte. „Zu Mittag“, so beschrieb Kreisky im letzten Absatz seines Buches „Zwischen den Zeiten, Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten“ die Stunden nach der Unterzeichnungszeremonie, „flogen wir nach Hause. Dort wurden wir mit ungeheurem Jubel empfangen. Tausende säumten die Straßen vom Flughafen Bad Vöslau nach Wien. Dieser 15. April 1955 war der größte Tag meines politischen Lebens. Nie wieder, so schien es mir, würde ich ähnliches erleben. Und so ist es bis heute geblieben.“

13 Jahre Kanzler
1959 wird Kreisky wird Kreisky zum stellvertretenden Vorsitzenden der SPÖ gewählt und von Raab zum Außenminister ernannt. 1966 erreicht die ÖVP die absolute Mehrheit und bildet eine Alleinregierung. Kreisky scheidet somit aus der Regierung aus. 1967 wählt ihn die SPÖ zu ihrem neuen Vorsitzenden. Bei den Wahlen 1970 wird die SPÖ unter seiner Führung erstmals mandatsstärkste Partei. Obwohl nur mit einer relativen Mehrheit ausgestattet, wagt er die Bildung einer Alleinregierung – mit Duldung der bislang verfemten Freiheitlichen Partei. Der Preis, den er dafür zu zahlen hat, ist die Einführung eines neuen, gerechteren Wahlrechtes, das der FPÖ auch in schlechten Zeiten das parlamentarische Überleben sichern sollte. Bei den im nächsten Jahr stattfindenden Neuwahlen erreichte Kreiskys SPÖ die absolute Mehrheit, die sie bis zum Jahre 1983 behält. In diesen 13 Jahren lenkt Kreisky als Bundeskanzler die Geschicke der Republik. Für die nach dem Verlust der absoluten Mehrheit gebildete kleine Koalition von SPÖ und FPÖ steht er nicht mehr zur Verfügung, obwohl er mit Fug und Recht als ihr Architekt bezeichnet werden darf.
Wie bei jedem in der Öffentlichkeit stehenden und tätigen Menschen schwankt auch Kreiskys Charakterbild, von der Parteien Gunst und Hass verzerrt, in der Geschichte: Zweifellos hat er viel bewirkt und bewegt. Zunächst einmal in seiner Partei und für seine Partei. Der Höhenflug der SPÖ wäre ohne Kreisky undenkbar gewesen. Er war die „1“ vor vielen Nullen. Persönlich integer, muss ihm doch zum Vorwurf gemacht werden, dass unter seiner Ägide eine beachtliche Reihe von Personen in Ämter und Positionen gelangte, die sie moralisch oder intellektuell überforderten. Die Parteibuch- und Protektionswirtschaft wurde zwar nicht von ihm erfunden oder eingeführt, er tat aber auch nichts, um sie zu beseitigen. Die Staatsverschuldung explodierte und die Verkürzung der Wehrdienstzeit wurde zu einem Wahlschlager gemacht. Die vielgerühmte Aussöhnung mit der katholischen Kirche zählt weniger zu den staatspolitischen, sondern vielmehr zu den parteipolitischen Leistungen des Verstorbenen. Hat doch die SPÖ einen ideologischen Gegner sehr geschickt neutralisiert, wie das Schweigen der Kirche bei der Legalisierung der Abtreibung mit erschreckender Deutlichkeit zeigte.
International erregte er durch sein Eintreten für die Palästinenser und die Anerkennung der PLO Aufsehen und geriet dadurch in Gegensatz zur israelischen Politik. Zionistischen Zorn zog sich Kreisky auch zu, indem er Anmaßungen Wiesenthals entschlossen entgegentrat, eine „Bewältigungsjustiz“ bundesdeutscher Machart für Österreich ablehnte und „Wiedergutmachung“ in Milliardenhöhe, die man von Österreich als Bestandteil des ehemaligen Großdeutschen Reiches forderte, strikt verweigerte. In der Südtirolfrage, einer Herzensangelegenheit fast aller Österreicher, bewies er Geschick und Einsatzfreude. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er von den geplanten Anschlägen Anfang der sechziger Jahre im Vorhinein informiert gewesen war.

Haltung zum Deutschtum
Seine Haltung zum Deutschtum war zwiespältig. Auf der einen Seite bekannte er sich zur sogenannten „Österreichischen Nation“ – er sprach sogar vor der UNO im Zusammenhang mit Südtirol von einer „österreichischen“ Minderheit, er gehörte zu jenen, die an das Wort „deutsch“, wenn sie es in Zusammenhang mit Österreich verwendeten, immer das Wort „-sprachig“ anhängten, auf der anderen Seite scheute er sich nicht, davon zu sprechen, dass sich seine Familie in der Monarchie zum Deutschtum bekannt, dass sich seine Eltern als „Deutsch-Böhmen“ gefühlt hätten, usw. Er hat auch nie die Geschichte der Sozialdemokratie in Österreich zu manipulieren versucht, hat nie in Abrede gestellt, dass die großen sozialistischen Denker der Zwischenkriegszeit ein klares Bekenntnis zum Deutschtum abgelegt hatten. Er war ein Gegner nationalen Denkens, er stand ganz klar und eindeutig auf der anderen Seite, aber eer war, im Gegensatz zu manchen seiner Parteifreunde, nicht bösartig oder gehässig. Er hielt nichts von der Gleichsetzung „national = nationalsozialistisch“ und hat im Laufe seiner politischen Tätigkeit auch ehemaligen Nationalsozialisten Verständnis entgegengebracht. Dem volksbewußten Lager in Österreich wurde seit der Gründung der Zweiten Republik bis zum heutigen Tag die Gleichberechtigung mit den anderen politischen Richtungen verwehrt. Unter Kreisky hatte es aber zumindest genug Luft zum Atmen.
Mit ihm starb einer der letzten Altösterreicher, Sozialdemokrat mit großbürgerlichem Lebensstil, Jude mit Respekt vor der Geschichte, ein Demokrat, der auch dem politischen Gegner eine gewisse Toleranz entgegenbrachte.
Dr. Herbert Fritz